Donnerstag, 1. Mai 2014

Kunst ist, wenn man streitet

Mit dem Hafenkran bleiben Zürich zwei Möglichkeiten: Entweder, sich verschämt zu ducken. Oder: erhobenen Hauptes einen Hauch von Freak zu präsentieren.
 
 «Wir protestieren gegen den unnötigen und ungeheuerlichen Koloss im Herzen unserer Stadt, der diese auf ebenso lächerliche wie düstere Weise überragt und alles ringsum durch seine blosse Anwesenheit demütigt.» Hafenkran-Genörgel? Weit gefehlt! Diese klaren Worte, ausgerechnet aus kollektivem Künstlermund, wurden bereits 1887 geäussert – aus Unmut über ein Bauwerk, das die Gemüter damals mindestens so sehr erhitzte wie jetzt der Rostocker Gast am Limmatquai: der Eiffelturm. Zwei ganz verschiedene Paar Schuhe? Nicht doch. Sicher, das Pariser Wahrzeichen misst 300 statt 30 Meter und bringt das eine oder andere Tönnchen mehr auf die Waage; sein Aufbau dauerte stolze zwei Jahre, und er war auch nicht nur für einen Sommer konzipiert, sondern für deren 20. Trotzdem sind gewisse Parallelen zwischen den beiden Stahlkolossen nicht von der Hand zu weisen: Beide gingen aus städtebaulichen Wettbewerben hervor, beide verströmen industriellen Chic, beide waren sie – zumindest, was ihre Funktion anbelangt – nicht zwingend nötig. Und: Beiden blies eiskalter Wind entgegen.

Aber so ist das nun einmal mit Wahrzeichen und Ikonen: Was ein echter Meilenstein werden will, muss erst mal unten durch. Denken wir an Marcel Duchamp: Der nahm 1917 ein Pissoir von der Wand, stellte es auf einen Sockel und nannte das Ganze «Fontäne». Der Spott war gross – und das Readymade, das den Kunstbegriff radikal umkrempeln sollte, geboren. Weil es die vermeintliche Kulturlosigkeit des Alltags, die Profanität des Gebrauchsgegenstandes hinterfragte – und letztlich widerlegte: Heute steht Duchamps Pissoir im Museum. 

Warum also nicht auch den Hafenkran als Readymade verstehen? «Kran-Vater» Jan Morgenthaler hat schliesslich nichts anderes getan als einst Duchamp: den Kran seines natürlichen Kontexts enthoben und ihn an einen Ort verpflanzt, wo er eigentlich nicht hingehört. Wo er stört, ungenutzt im Weg steht, irritiert. Und wo er Affront ist für den verwöhnten Zürcher Kulturkonsumenten, der sich im Kunsthaus Monet zu Gemüte führt und im Opernhaus jede Oper samt Werkeinführung und Übertitel serviert bekommt. Ihn packt Morgenthaler dort, wo es so richtig unbequem ist: mit der einen Hand beim Augapfel, mit der anderen beim Intellekt. Denn um die – zugegeben spröden – Reize des Krans zu entdecken, reicht es eben nicht, den Hintern auf samtbezogene Polster zu platzieren oder affirmativ zum Gesäusel aus dem Audioguide zu nicken. Da muss man schon über ästhetische Hürden springen, muss geschmackliche Schranken einreissen und, vielleicht, zweimal hingucken, um wirklich zu sehen.

Das ist nicht anders als beim Sport: Wer wirklich Resultate erzielen will, muss schwitzen, den inneren Schweinehund überwinden, auch mal Schmerzen in Kauf nehmen. Der kulturelle Horizont ist wie ein Muskel: Wer ihn nicht trainiert, der darf sich nicht wundern, wenn da nichts wächst.

Mit dem Hafenkran hat Zürich seinen blau-weissen Hintern tatsächlich hochgekriegt. Sich endlich mal mehr getraut als bunte, debil lächelnde Teddybären. Ein Zeichen gesetzt wie eine Mittsiebzigerin, die sich ein bauchfreies T-Shirt überstreift und einen Irokesenkamm schneidet. Da wird halt geschnödet, weil so ein faltiger Bauch das gängige Schönheitsempfinden ebenso herausfordert wie eine kräftig durchgerostete Stahlkonstruktion. Und der Irokese zur Rentnerin beziehungsweise ein Kran in die Binnenstadt passt wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, um ein Sprachbild zu bemühen, das diese wunderbare Doppeldeutigkeit in sich trägt, wonach zwei Dinge scheinbar so ganz und gar nicht miteinander korrelieren, es aber halt doch passt wie angegossen. 

So guckt jetzt also alles auf die aufgebrezelte Oma Zürich, der nun zwei Möglichkeiten bleiben. Entweder, sich verschämt zu ducken. Oder: erhobenen Hauptes einen Hauch von Freak zu präsentieren und sich über die bewundernden Blicke zu freuen für den Mut, nonkonformistisch zu sein. 

«Vorsicht Quetschgefahr» steht auf der Tafel an einem der drei Stahlbeine «unseres» Krans, was Sinn macht, da diese einst auf Schienen fuhren. Heute muss man nicht mehr befürchten, sich etwas einzuklemmen; unter die Räder kommt höchstens die Borniertheit jener, die den Metallkoloss von vornherein als Quatsch abtun, als Vernichtungsmaschine von Hunderttausenden von Franken, die man besser in etwas Sinnvolles investiert hätte. Und richtig: Der Kran ist – einfach nur da. Lupft keinen Container mehr durch die Gegend, darf nicht erklettert werden, macht keine Werbung für irgendetwas und auch sonst keine Faxen. Und das ist auch gut so, denn genau das macht ihn zu – Kunst. Und zwar nicht im falschen Sinne von «schön anzusehen». Denn das sind Dekoartikel. Auch nicht im Sinne von «handwerklich anspruchsvoll». Das ist die chirurgische Trennung siamesischer Zwillinge. Nein: Kunst ist dann, wenn etwas aufrüttelt und zu intellektueller und emotionaler Reaktion auffordert. Zum Beispiel, weil es abgewrackt und deplatziert ist. Kunst ist, wenn eben nicht alle gleicher Meinung sind. Sie ist mehrschichtig, gern auch uneindeutig.

«Zürich Transit Maritim» heisst das Hafenkranprojekt offiziell und will damit nicht nur ans Gedankenexperiment von Zürich als Hafenstadt anspielen. Das Wort «transit», aus dem lateinischen «trans» (durch) und «ire» (gehen) zusammengesetzt, trägt mehr als die künftige Weiterreise des Metallkolosses in sich: nämlich die Vergänglichkeit ganz allgemein. 

Die Zeit des Krans ist abgelaufen, das verrät ein Blick auf seine rostzerfressene Hülle; das elektronische Innenleben wurde ihm längst schon rausoperiert. Resultat? Ein Kraftprotz, ders nicht mehr bringt. Noch ein paar Monate im Rampenlicht, dann ergeht es ihm nicht besser als irgendwann jedem von uns. Memento mori!, ächzt das Stahlgerippe – und wird gleich noch einmal doppeldeutig: Über der Limmat baumelt der schwere Transporthaken am Drahtseil wie der Strick vom Galgen; folgt das Auge aber dem Ausleger, blickt man direkt ins Blau des Himmels.

Beim Kran – da geht es um Vergänglichkeit. Aber auch um Grösse, Kraft, Potenz, Leistung. Und von da aus weiter zu Standhaftigkeit, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und wahrer Schönheit. Es geht um die Fallstricke der Leistungsgesellschaft, die Frage nach der Notwendigkeit, sich anzupassen, und um den Mut herauszustechen. Es geht ums Anderssein, Fremdsein und, umgekehrt, um das Vermögen, mit Fremdem umzugehen. Denn letztlich ist Kunst vor allem auch eines: ein Spiegel. Weshalb die Meinung zum Kunstwerk mehr über den aussagt, der sie äussert, als über das Werk an sich. Und wer sich selbst im Kunstwerk – im Kran! – nicht erkennt, der hat nicht gut genug hingesehen.

Übrigens: Kaum stand der Eiffelturm, da schrieb ein Journalist: «Wie viele andere habe ich geglaubt, der Eiffelturm sei ein Wahnsinn. Aber es ist ein grossartiger, stolzer Wahnsinn! Gewiss, diese ungeheure Masse erdrückt. Aber was wollt ihr? Er spricht die Fantasie an, ist etwas Unerwartetes, etwas Fantastisches, das unserer Kleinheit guttut.» Statt ihn, wie geplant, nach 20 Jahren abzureissen, liess man den Eiffelturm, wo er war. Wo er nicht hinpasste, aber hingehörte. In diesem Sinn: Lassen wir den Kran stehen! Der Kran haut uns aufs Auge, packt uns beim Intellekt und trainiert unsere ästhetische Muskulatur.

Quelle: Tages-Anzeiger 19. April 2014

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