Montag, 23. Juni 2014

Gewalttäter ausgeschafft - und freigelassen

Verwahrte kommen in ihrem Herkunftsland meistens umgehend frei, obwohl sie in der Schweiz als gemeingefährlich gelten. Wie ist das möglich?

 

Die Zelle eines Verwahrten in der Zürcher Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf. Foto: Alessandro della Bella (Keystone) Die Zelle eines Verwahrten in der Zürcher Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf. Foto: Keystone

Fälle wie der folgende waren in der Schweiz bisher nicht bekannt: Im Kanton Bern ist ein gefährlicher Straftäter aus der Verwahrung direkt in sein Heimatland ausgeschafft und dort auf freien Fuss gesetzt worden. Die unmittelbare Rückreise war die Bedingung für die Entlassung. Eine Entlassung in der Schweiz wäre nicht infrage gekommen, weil die Behörden zur Ansicht gelangten, dass der Mann hier eine Gefahr für die Öffentlichkeit dargestellt hätte.
Der Fall liegt bereits drei Jahre zurück, ist bisher aber nie ans Licht gelangt. Markus D’Angelo von der Abteilung Straf- und Massnahmenvollzug des Kantons Bern bestätigt entsprechende Informationen, die dem TA vorliegen. «Ja, eine Person wurde aus der Massnahme der Verwahrung bedingt entlassen – unter der Bedingung der unmittelbaren Rückreise in ihr Heimatland.»

Mehrheit gilt als geistig abnorm

Von der Verwahrung direkt ins Ausschaffungsgefängnis – im Kanton Bern, wo jährlich 23'000 Fälle bearbeitet werden, sei dies der einzige Fall dieser Art, sagt D’Angelo. Auch im Kanton Zürich wurde in den letzten fünf Jahren keine Ausschaffung eines Verwahrten angeordnet. Aus Gründen des Datenschutzes machen die Berner Behörden keinerlei Angaben über die Person, ihr Delikt und ihre Nationalität. Der Betroffene könnte selbst anhand weniger Angaben leicht identifiziert werden. 

Fest steht, dass er vor der Gesetzesrevision des Jahres 2007 verwahrt wurde. Er ist also einer der 47 ausländischen Verwahrten, die zu diesem Zeitpunkt in Schweizer Gefängnissen sassen.

Bis dahin wurden im Wesentlichen zwei Typen von Straftätern zum Schutz der Öffentlichkeit verwahrt: Gut 90 Prozent galten als sogenannt geistig abnorme Straftäter, von denen die Mehrheit schwere Gewalt- und Sexualstraftaten begangen hatte. Weniger als 10 Prozent der Verwahrten waren sogenannte Gewohnheitsverbrecher, die oft weniger schwere Delikte verübten, dafür aber umso häufiger. Eine der Voraussetzungen für eine Verwahrung war damals wie heute, dass ein Täter als rückfallgefährdet eingestuft wurde und schlecht auf Therapien ansprach.

«Besonderes Setting» verlangt

Wie ist es also möglich, dass ein Täter mit einer solchen Beurteilung in einem Land eine Gefahr darstellt, in einem anderen nicht? D’Angelo sagt, dass der psychische Zustand des Täters «ein besonderes Setting» verlangte. Dieses habe in der Schweiz nicht installiert werden können, die Bedingungen dafür seien durch seinen fremdenpolizeilichen Status, das familiäre Umfeld und die Arbeitsmöglichkeiten nicht gegeben gewesen. «In seinem Heimatland konnte nach intensivem Kontakt mit den Behörden sowie den medizinischen und familiären Bezugspersonen die Lebenssituation des Insassen konkret so ausgestaltet werden, dass die Legalprognose besser ausfiel als bei einem hypothetischen Verbleib in der Schweiz.» Will heissen: Ohne Job und Aufenthaltsbewilligung ist der Mann gefährlich, im Kreis seiner Familie sehen die Behörden in ihm ein kleineres Risiko. 

Wenn ein Straftäter in der ordentlichen Verwahrung überprüft wird, muss immer die zuständige Fachkommission beigezogen werden. Im erwähnten Fall war die Fachkommission Nordwest- und Innerschweiz dafür zuständig, den Täter zu beurteilen und eine Empfehlung abzugeben. Der Präsident der Kommission, Dominik Lehner, gibt aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes keine Auskünfte zum Einzelfall selbst. Generell sei allerdings festzuhalten, dass es durchaus zu solchen Entlassungsentscheiden kommen könne. Der «soziale Empfangsraum» habe eine grosse Bedeutung darauf, ob sich ein Mensch gesetzeskonform verhalte. «Wenn jemand hier völlig entsozialisiert ist, in der Schweiz keine Wohnung und keine Arbeit hat, kann das einen grossen Einfluss auf die Prognose haben», sagt Lehner. 

Die meisten sind Persönlichkeitstäter

Demgegenüber sagt Frank Urbaniok, Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich: «In der Regel ist davon auszugehen, dass die bei diesen Personen festzustellende Gefährlichkeit im Ausland nicht geringer ist als bei uns in der Schweiz.» Urbaniok kennt den Fall nicht persönlich, sagt aber, dass es sich bei den meisten Gewalt- und Sexualstraftätern mit erheblichen Delikten um sogenannte Persönlichkeitstäter handelt. Bei solchen seien risikorelevante Merkmale in der Persönlichkeit angelegt, weshalb deren Gefährlichkeit weniger von den Lebensumständen abhänge. Urbaniok warnt davor, die «Effekte situativer Konstellationen bei Persönlichkeitstätern zu überschätzen». 

Dass sich etwa ein Pädophiler nicht davon abhalten lässt, nach der Ausschaffung in seinem Heimatland erneut die Nähe von Kindern zu suchen, zeigte sich im Jahr 2009. Damals deckte der TA auf, dass ein ungarischer Fussballtrainer, der in der Schweiz fünf Knaben sexuell missbraucht hatte, in seinem Heimatland erneut Fussballjunioren trainierte – ohne dass sein Vorgesetzter über sein Vorleben Bescheid wusste. Ob er sich weiter an Kindern vergangen hat, ist unbekannt.

Ohne Weisungen entlassen

Was haben die Berner Behörden also unternommen, um zu verhindern, dass der Mann erneut straffällig wird, der jahrelang in der Schweiz verwahrt war? Bei Verwahrten wird die bedingte Entlassung in der Regel mit sogenannten Weisungen verknüpft. Einem Täter, der im Rausch zu Gewalt neigt, kann etwa der Alkohol- und Drogenkonsum verboten werden. Der ins Heimatland abgeschobene Verwahrte wurde allerdings ohne Weisungen bedingt entlassen. Deren Überprüfung sei «sehr umständlich und setzt ein langwieriges Verfahren voraus», sagt D’Angelo. Deshalb würden Straftäter in aller Regel nur bedingt ins Ausland entlassen, wenn das Risiko auch ohne Weisungen vertretbar sei. «Der Empfangsraum im Ausland muss so vorbereitet werden können, dass die Rückfallgefahr äusserst klein erscheint», sagt D’Angelo. 

Deshalb sei im vorliegenden Fall «mitnichten von einem Export eines Risikos auszugehen», sagt D’Angelo. Ob der Betroffene in seinem Heimatland tatsächlich keine Probleme macht, ist nicht bekannt. Ob sich der Mann seit seiner Entlassung bewährt hat, ist unklar. D’Angelo sagt dazu: «Wir verfügen über keine gegenteiligen Informationen.»
Wie wird Einreise in die Schweiz verhindert?

Gemäss den letzten Einschätzungen von Schweizer Behörden war der Verwahrte bis zu seiner Entlassung zu gefährlich, um hier in Freiheit zu leben. Deshalb drängt sich die Frage auf, wie er an einer erneuten Einreise gehindert wird. Bei Ausschaffungen erlässt der Bund in der Regel eine Einreisesperre und schreibt die Person im Fahndungssystem Ripol aus. 

Dieses verhindert zwar nicht, dass Personen illegal einreisen können. Doch es ermöglicht, gesuchte oder bedingt entlassene Straftäter an der Grenze oder bei Kontrollen im Land zu erkennen. Auf die Frage, ob dies tatsächlich geschehen ist, antwortet D’Angelo: «Wenn eine Einreise zu verhindern ist, sind die Ausländerbehörden dafür zuständig.»   

Quelle: Tages-Anzeiger 23.6.14

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